Eines der vielbeachteten deutschsprachigen Debüts in diesem Frühjahr ist der Roman der 1984 geborenen Autorin Alina Herbing. Darin erzählt sie von Christin, einer jungen Frau aus einem kleinen Ort im Norden Mecklenburg-Vorpommerns. Dieser nicht näher bezeichnete Ort liegt an der ehemaligen Grenze nicht weit von Lübeck und der Küste. Schön, denkt man zunächst – schrecklich, wenn man die Lektüre beendet hat. Denn Alina Herbing schildert in ihrem gelungenen Roman die Schattenseiten eines Lebens auf dem Land, das nichts mit den romantischen Vorstellungen der Städter zu tun hat.
Christin ist Mitte Zwanzig und lebt bei ihrem Freund Jan, der in die Fußstapfen seines Vaters tritt und im elterlichen Milchviehbetrieb arbeitet. Den Betrieb gab es schon zu Zeiten der DDR, doch nach der Wende wurde es für die Landwirte immer schwieriger, den neuen Dumpingpreisen standzuhalten. Alles in Christin sträubt sich gegen die schwere körperliche Arbeit auf dem Bauernhof und in ihren Beschreibungen der Stallarbeit findet sich wenig Landluftromantik. Man versteht nur zu gut, dass sie weg möchte. Weg vom Stallmist, weg vom misstrauischen „Schwiegervater“ und weg aus dem Ort, in dem nichts geheim bleiben kann. Ihre Mutter hat sich schon vor Jahren abgesetzt, ohne jemals wieder ein Lebenszeichen von sich zu geben. Und auch Christin ist froh, dem verwahrlosten Zuhause und dem trinkenden Vater entkommen zu sein, als sie bei Jan einzieht. Doch sie hasst die Arbeit im Stall und würde viel lieber in einer Großstadt leben und im Büro arbeiten. Wenn sie auf einem Hügel steht, kann sie die Türme von Lübeck sehen und trotzdem bleiben sie wie ein unerreichbarer Traum in der Ferne. Es ist kaum vorstellbar, wie unüberwindbar diese kurze Entfernung sein kann.
Das alles beschreibt die Autorin eindringlich und trifft dabei genau den Ton, der verstehen lässt, warum Christin nicht gehen kann. Ihre Situation wird zunehmend nachvollziehbar und die Spirale, in der sie sich bewegt, ist deprimierend so wie das Leben, das sie führt, unabänderlich ist. Wie Alina Bronsky in Scherbenpark die Ausweglosigkeit eines Mädchens in einem Hochhausghetto beschreibt, so ist es hier die „gute Landluft“, die der Protagonistin zum Verhängnis wird. Ihr Versuch zu entkommen scheitert schon in der ersten Nacht, als Christin sich mit dem Auto mit nach Hamburg nehmen lässt. Als sie sich am Stadtrand in ihren Gummistiefeln und Stallklamotten wiederfindet, weiß sie schon nicht mehr, wie es jetzt weitergehen soll und fährt wieder zurück. Wie von einer Welle wird sie in den Ort zurückgespült, aus dem sie verzweifelt fliehen will und in dem sich sofort herumspricht, dass sie nachts unterwegs war. In Klaus hofft sie schließlich jemanden gefunden zu haben, der ihr eine Möglichkeit gibt zu entkommen. Er arbeitet bei einem Unternehmen für Windkraftanlagen und kontrolliert die Windräder auf den Feldern. Doch die erhoffte Romantik bleibt aus…
In ihrem beeindruckenden Roman Niemand ist bei den Kälbern entwirft Alina Herbing das Bild einer jungen Frau, die keine Chance hat, ihrem Umfeld zu entfliehen und macht nachvollziehbar, warum es ihr aus den banalsten Gründen nicht möglich ist zu gehen.
Alina Herbing: Niemand ist bei den Kälbern, Arche Verlag, ISBN-13:9783716027622
Wirklich ein toller Roman. Alina herbings Sprache, diese gewisse ruppigkeit, hat mir ziemlich gut gefallen.
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