Verlorene Heimat

die-fremdeGerhard Streminger erzählt in seinem Briefroman Die Fremde von Vertreibung, Neubeginn und davon was es bedeutet, heimatlos zu sein

In dieser bildreichen und fast schon altmodisch erzählten Geschichte, in der Streminger philosophisch und gesellschaftlich das Thema Heimatverlust hinterfragt, wird man in eine vergangene und im ganz buchstäblichen Sinne untergegangene Welt geführt. Wenn man heute über Vertreibung und Flucht spricht, denkt man natürlich sofort an die aktuelle politische Situation. Doch damit hat der Roman nur sehr wenig zu tun.

Ein Dorf in den Schottischen Highlands in dem Emily Macleod aufgewachsen ist wurde umgesiedelt, als Emily dreizehn Jahre alt war. Zur Stromgewinnung hatte man gegen den Widerstand der Dorfbewohner einen Staudamm errichtet, um den Fortschritt voranzutreiben. Den Menschen sollte zu mehr Wohlstand und damit zu einem glücklicheren Leben verholfen werden – eine Rechnung die selten aufgeht und auch in dem beschriebenen Dorf traten die erwarteten Verbesserungen nicht ein. Zumindest nicht bei denen, die unmittelbar betroffen waren. Nach dem Verlust ihrer Heimat mussten die Menschen ein neues Zuhause finden und viele von ihnen wanderten nach Übersee aus – so auch Emilys Familie, die in Amerika einen Neuanfang suchte.

Die mittlerweile alt gewordene Emily blickt zurück auf vergangene Zeiten und erzählt in langen Briefen, die sie an ihre Enkelin schreibt, von ihrer glücklichen Kindheit und der dörflichen Idylle, die sie als Kind erlebte. Von unbändiger Abenteuerlust getrieben wuchs sie in Freiheit auf und verbrachte viel Zeit damit, auf langen Spaziergängen mit ihrem geliebten Hund die Gegend zu erkunden. Dabei empfand sie die Natur nie als Bedrohung und wurde von einer unbestimmten Geborgenheit getragen. Die immer wachsamen Blicke der wohlwollenden Nachbarn waren ihr sicher und sie erlebte eine Kindheit in Freiheit und Sicherheit.

Als der Staudamm gebaut und das Dorf geflutet wurde, blieb von all dem nichts übrig. Es war gleichsam eine Vertreibung aus dem Paradies, als die Menschen ihre Häuser verlassen mussten und ihrer heilen Welt beraubt wurden. Für Emily ein traumatisches Erlebnis. In ihrem neuen Zuhause wurde sie nie heimisch, während ihre Geschwister das Leben in Amerika als Herausforderung verstanden. Als erwachsene Frau nannte sich Emily deshalb im Stillen selbst „die Fremde“.

Nach fünfundzwanzig Jahren reist die erwachsene Emily noch einmal nach Schottland, um ihre Heimat zu besuchen. Der Staudamm wird zu diesem Zeitpunkt gerade repariert, denn der Fluss, der einmal durch das Dorf verlief, hatte über die Jahre Schäden am Damm angerichtet. Das Wasser wird für die Reparaturarbeiten noch einmal abgelassen und damit der Blick auf das Dorf für kurze Zeit freigegeben. Es ist das letzte Mal, dass Emily ihre verlorene Heimat sieht.

Warum ist es für viele Menschen so wichtig zu wissen, woher sie kommen und was bleibt übrig, wenn man seine Heimat verliert? Ganz wird man diese Fragen vielleicht nie beantworten können, doch der Philosoph und Mathematiker Gerhard Streminger nimmt das Bild des untergegangenen Dorfes als Symbol für den Verlust von Heimat. In poetischen Beschreibungen werden die Tiefe und Unergründlichkeit der Gefühle der Menschen zum Ausdruck gebracht und darüber hinaus ist Stremingers tiefsinniger Roman sprachlich und inhaltlich ein Genuss.

Gerhard Streminger: Die Fremde, Braumüller Verlag 2016, 240 Seiten, ISBN-13: 9783992001620

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