Eine Frage der Moral

Rose TremainWird ein Flüchtling ohne Fahrschein von einem Fahrkartenkontrolleur erwischt, würde sich wahrscheinlich die Mehrheit im Zug dafür aussprechen, ihn nicht zu bestrafen, sondern eher vom Kontrolleur erwarten, dass er bei einem Menschen in einem fremden Land, mit fremder Sprache und offensichtlich schwierigen Lebensumständen ein Auge zudrückt. Ist man nicht sogar entrüstet, wenn der Kontrolleur anders handelt? Schnell stellt sich in einer solchen Situation die Frage nach Moral und Menschlichkeit. Hat nicht jeder schon einmal erlebt, dass ihm selbst geholfen wurde und die Regeln nicht so streng befolgt wurden, wie es das Gesetz eigentlich vorschreibt?

Rose Tremains neuer Roman Und damit fing es an berührt diese Problematik, denn auch hier wird der Widerstand des „kleinen Mannes“ und die Frage nach Zivilcourage thematisiert. Dem Protagonisten wird das menschliche Handeln gegen das Gesetz zum Verhängnis mit weitreichenden Folgen für sich, seine Frau und seinen Sohn Gustav, der in den vierziger Jahren in Matzlingen, einem kleinen Ort in der Schweiz, aufwächst.

Gustav lernt seinen Vater nicht mehr kennen und lebt mit seiner Mutter in bescheidenen Verhältnissen. Sie muss viel und schwer arbeiten, um für sich und den Sohn aufzukommen, hat kaum Zeit für den Jungen und wie es scheint auch kein großes Interesse, sich um ihn zu kümmern. Es fehlt an Allem und Gustavs Zuhause ist eine lieblose Umgebung.

Als Gustav sich mit seinem neuen Schulkollegen Anton anfreundet, lernt er eine andere Welt kennen, wenn auch nur als Zaungast. Anton kommt aus einer jüdischen Familie, in der Kultur äußerst wichtig ist. Er spielt Klavier und auch sonst wird auf die Bildung des Sohnes großen Wert gelegt. Manchmal darf Gustav den Freund zum Schlittschuhlaufen begleiten und die Freundschaft der Jungen scheint unzerstörbar. Tatsächlich werden sie sich ein Leben lang nie ganz aus den Augen verlieren, obwohl ihre Lebenswege sehr unterschiedlich verlaufen.

Dabei ist Und damit fing es an nicht in erster Linie ein Buch über Freundschaft, auch wenn man es auf dieser Ebene lesen kann. Vielmehr hat dieser Roman ein zentrales Thema: die Geschichte von Gustavs Vater. Dieser arbeitete als Polizist und hatte während des Zweiten Weltkrieges mit jüdischen Emigranten zu tun, die in die Schweiz einreisen wollten. Gustavs Mutter wollte nicht viel darüber wissen, suchte ihr Glück im Privaten und freute sich über den Nachwuchs, der sich ankündigte.

Erst als Erwachsener beginnt Gustav Nachforschungen über seinen Vater anzustellen und erfährt so, warum der Vater früh starb und warum er seine Mutter als eine verbitterte Frau kennenlernte, die nicht wollte, dass er in einer jüdischen Familie ein und aus ging. Als er beginnt, Fragen zum Leben seines Vaters zu stellen, ist Gustav fünfzig Jahre alt und es ist noch nicht zu spät, Menschen aufzusuchen, die seine Fragen beantworten können. Dabei lernt er eine Frau kennen, die eine wichtige Rolle im Leben seiner Familie spielte und die ihm (fast) zum Verhängnis wird.

In Rose Tremains Roman wird, ähnlich wie in Seethalers Buch Der Trafikant, die Frage gestellt, wo Widerstand beginnt, was Moral bedeutet und wie man sich verhält, wenn man die Zustände nicht ändern kann? Mit Und damit fing es an ist der Autorin ein eindrucksvoller Roman über Moral und Schuld gelungen, der, selten genug, gleichermaßen literarisch und unterhaltsam ist.

Rose Tremain: Und damit fing es an, Insel Verlag 2016, 333 Seiten, ISBN-13: 978-3458176848

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