Eva Ladipo verbindet in ihrem ersten Roman zwei Themen: die Energiewende nach der Reaktorkatastrophe in Fukushima und die Deutsche Wende von 1989
René Hartenstein hat eine Karriere hinter sich, die man nur als mustergültig bezeichnen kann. Er hat sich von ganz unten hochgearbeitet und jetzt einen gut bezahlten Job bei der ReAg, dem Frankfurter Stromversorger. Dabei hatte er anfangs in der Schule und später im Jurastudium viel Glück gehabt, denn er traf immer wieder auf Leute, die ihn, den jungen Ostdeutschen aus prekären Verhältnissen, förderten. Manchmal wurde er dabei zu einer Art „Vorzeigeemporkömmling“ und diente der Erfüllung der Quote bei der Studienstiftung. Wie auch immer, Renée Hartenstein wurde zum lebenden Beweis dafür, dass man es schaffen kann.
Anders als seine halbkriminellen Brüder und Freunde bewegt er sich ganz selbstverständlich in den höheren Kreisen. Dazu gehört neuerdings auch Cosima, mit der er eine Beziehung hat. Vom Schwiegervater in spe wird er noch argwöhnisch beäugt, doch für René ist es ernst mit Cosima, denn sie ist die Frau seines Lebens.
Doch nun wird ihm, wie vielen seiner Kollegen bei der ReAg, gekündigt. Die Kanzlerin hat nach dem Super-GAU in Fukushima von heute auf morgen die Energiewende eingeleitet und seine Abteilung wird geschlossen. Von der Entlassungswelle ebenfalls betroffen ist Renés Kollege Martin Jäger, der eines Abends nach Hause geht und sich auf dem Dachboden erhängt – so wird es zumindest allgemein angenommen. Niemand kommt auf die Idee, den vermeintlichen Selbstmord zu hinterfragen und auch René quälen Schuldgefühle, die Hilferufe des Kollegen nicht erkannt zu haben.
Als er den Schreibtisch seines Kollegen Martin aufräumt – das ist er ihm schuldig – sagt er alle Termine des Verstorbenen ab, die er noch in der Agenda finden kann. Dabei stößt er auf eine Firma in London, mit der sein Kollege offenbar in Kontakt getreten war, um sich dort zu bewerben. Am anderen Ende der Telefonleitung meldet sich eine Frau namens Anna Smoktun, die ihn kurzerhand zu einem Gespräch nach London einlädt.
René hat nichts zu verlieren und nach kurzem Gespräch und einem Angebot, das er kaum ablehnen kann, überlegt er noch lange, woher er Anna Smoktun kennt. Plötzlich fällt ihm ein, dass sie aus Rohrborn stammt, einer Nachbarstadt seiner Heimat im Osten, in der jeder jeden kennt. René will wissen, was es mit der unnahbaren, unterkühlten Frau auf sich hat und beginnt Nachforschungen anzustellen. Was er dabei herausfindet und wie weit er sich dabei in die Niederungen der Korruption begibt, ahnt er erst, als er auf eine spezielle Stasiakte stößt. Je mehr René herausfindet, umso größer werden die Verstrickungen und für einen Rückzug ist es jetzt zu spät…
Hervorragend, wie sich die Geschichte zwischen Politthriller und Gesellschaftsroman bewegt. Die 1974 geborene Journalistin nimmt den Stoff „Atomausstieg nach Fukushima“ als Vorlage, um einen großen Bogen von der Zeit des Kalten Krieges über die Arbeit der Stasi bis zu den heutigen wirtschaftlichen Interessen der großen Stromversorger zu spannen. Die Geschichte, die sie dabei erzählt, zeugt von großem psychologischen Gespür und ausgeprägter Beobachtungsgabe, gerade wenn es um die Charakterisierung der Hauptfiguren geht, die sie geschickt in den politischen Stoff des Romans einbettet. Dabei betrachtet sie stets auch die andere Seite der Wahrheit, wobei ihr ein außergewöhnlicher und spannend erzählter Roman gelungen ist. Der Titel Wende hat eine doppelte Bedeutung, denn es geht nicht nur um die Energiewende, wie man zunächst annimmt, sondern auch um die deutsche Wende von 1989, die ausnahmsweise nicht klischeebeladen thematisiert wird.
Eva Ladipo: Wende, Picus Verlag 2015, 328 Seiten, ISBN-13: 978-3-7117-2028-3