„Sie hat ein gläsernes Klavier im Bauch und Angst, dass es kaputt geht…“

9783827012494-cover-lMiriam Toews erzählt einfühlsam die Geschichte zweier ungleicher Schwestern

Elfrida, meist nur Elf genannt, und Yoli, eigentlich Yolanda, sind Schwestern. Sie wachsen in einem kleinen Ort in Kanada auf und ihre Eltern gehören den Mennoniten an, einer freikirchlichen Gemeinde. Ihr Leben wird von strengen kirchlichen Gesetzen geprägt und die Schwestern müssen vieles geheim halten. Zum Beispiel darf niemand wissen, dass es ein Klavier im Haus gibt. Vor Besuchern wird es stets versteckt und die begabte Elf wird heimlich unterrichtet.

Das Talent eines Wunderkindes trifft auf Ehrgeiz und Fleiß und schon bald widersetzt sich die willensstarke Elf den Zwängen der Gemeinde. Sie widmet sich ganz ihrer Kunst und reist schon früh als gefeierter Star um die Welt. Ihre jüngere Schwester Yoli bewundert Elf für ihre Disziplin. Gerne hätte Yoli auch etwas erreicht, doch sie betrachtet ihr Leben als gescheitert, da ihre beiden Ehen in die Brüche gegangen sind. Mit Buchprojekten verdient sie zwar Geld, aber der Roman, den sie schreiben will, lässt auf sich warten. Yoli ist Mitte vierzig, als ihre Schwester auf dem Höhepunkt ihrer Karriere aufgrund einer psychischen Erkrankung, die weit über das hinausgeht, was man heute gerne „Burn-out-Syndrom“ nennt, mit einem Selbstmordversuch in ein Krankenhaus eingeliefert wird. Doch Elf bedauert, dass ihr das Leben gerettet wurde. Sie will sterben und bittet ihre jüngere Schwester, ihr dabei zu helfen.

Darf man jemandem „helfen“ zu sterben und wie kann man mit dieser Schuld zurecht kommen? Oder anders gefragt: Wie kommt man damit zurecht, jemandem nicht zu helfen, der sich mit klarem Verstand und diesem Wunsch an uns wendet? Diese Frage wird in dem einfühlsamen Buch der kanadischen Autorin zwar nicht beantwortet, aber sie nutzt gekonnt die Geschichte zweier Schwestern, um dieses Problem zu erläutern.

Alles wird aus Yolis Sicht erzählt und trotz des schwierigen Themas sind die Erinnerungen an die Schwester oft humorvoll. Aus der Distanz weiß sie von ihren ausgeprägten Charaktereigenschaften zu erzählen. Wenn sie die ältere Schwester im Krankenhaus besucht, gehen sie so miteinander um, wie sie es seit ihrer Kindheit getan haben. Viele Stellen des Romans handeln von diesem liebevollen Umgang der Schwestern miteinander. So auch im folgenden Dialog, in dem die schwerkranke Elf erfährt, das Yoli einen Roman schreibt:

„Du hast es endlich geschrieben? Das ist ja toll!! Sie fragte, ob ich ihr daraus vorlesen würde, und ich sagte nein. Nur einen Satz? Einen Halbsatz? Ein einziges Wort? Nein. Einen Buchstaben. Ich sagte o.k., den ersten Buchstaben des Romans würde ich ihr vorlesen. Sie lächelte und schloss die Augen und vergrub sich ein bisschen in ihrem Bett, als käme jetzt etwas ganz Köstliches. Ich fragte sie, ob sie bereit sei, und sie nickte immer noch lächelnd, die Augen geschlossen. Ich stand auf und räusperte mich, hielt inne und fing an zu lesen: L. …“

Literatur hat in Elfs Leben den gleichen Stellenwert wie Musik. An vielen Stellen des Romans werden ihre Lieblingsdichter zitiert und vervollständigen das Bild einer Künstlerin, die sich in einer empfindsamen Welt bewegt. Das Tragisch-Komische ist dabei nicht zu übersehen: „Elf öffnete die Augen und lächelte erschöpft, sie hatte sich damit abgefunden, dass sie wieder aufgewacht war, doch war sichtlich enttäuscht. Ich hörte ihre Gedanken: Welche Hölle ist das nun wieder? Es war unser Lieblingsspruch von Dorothy Parker, bei dem wir jedes Mal lachen mussten, nur diesmal nicht…“

Schwesterngeschichten tauchen in der Literatur immer wieder auf und oft sind es leicht lesbare, unterhaltsame Geschichten, in denen eine besonders innige oder komplizierte Beziehung beschrieben wird. Anders bei Miriam Toews. Mit der Beschreibung der Komplizenschaft zwischen zwei Schwestern, ist ihr ein literarisch anspruchsvoller und berührender Roman gelungen. Dabei bewegen sich die Frauen in verschiedenen Welten. Auf der einen Seite die schillernde Künstlerin, bei der Genie und Wahnsinn dicht beieinander liegen. Auf der anderen Seite die stille Beobachterin, die dazu gezwungen ist, die Nerven zu bewahren. Obwohl die Intimität dieser Beziehung schwer zu beschreiben ist, gelingt es der kanadischen Autorin eindrucksvoll, von diesen Gefühlen zu erzählen.

Miriam Toews: Das gläserne Klavier, Berlin Verlag, 2016, 368 Seiten, ISBN-13: 978-3-8270-1249-4

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